Wie das so ist im Leben, für fast zwei Monate kam ich einfach nicht raus. Die Beendigung meines Master-Studienganges, ein hektischer Umzug und mein arbeitsintensives Praktikum hielten mich anderweitig auf Trab und das Angeln rückte zwangsläufig in den Hintergrund. Die sehr erfolgreiche Phase im Frühjahr geriet fast in Vergessenheit, doch der Drang zurück ans Wasser zu kehren wurde immer stärker. Dann eröffnete sich mir das erste Mal seit langem wieder eine Möglichkeit: Der Umzug war halbwegs überstanden, das Schlimmste vorüber und das Studium erfolgreich beendet, außerdem reiste meine Freundin eine Woche zu ihren Eltern nach Polen, ich hatte also sturmfrei – auch wenn in der neuen Wohnung noch alles wie nach einem Sturm aussah. Doch es war genau diese Phase Mitte Juli 2022, die von einer extremen Hitzewelle geprägt wurde, weshalb ich die für mich ansonsten so reizvollen und lokalen, flachen Parkseen von vornherein ausschloss.
Dieses Mal sollte es woanders hingehen,
Dieses Mal sollte es woanders hingehen, außerdem wollte ich nach dem Stress der vergangenen Wochen am Wasser Entspannung suchen. Somit konnte ich den nahen, städtischen Kanalabschnitt auch von der Liste potentiell attraktiver Gewässer streichen. In meiner Wahrnehmung hatte dieser Kanal Narben hinterlassen: Die Erlebnisse hier machten es mir nahezu unmöglich, nachts beim Fischen beide Augen zu schließen. Außerdem hatte es vor kurzem ein massives Fischsterben gegeben. Es musste also ein anderes, bestenfalls hitzeresistentes Gewässer her: So rückte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf meinen großen Angstgegner, den in Karpfenanglerkreisen der Benelux Länder bekannten und sagenumwobenen Fluss Maas.
Ich hatte diese große Wasserstraße schon das ein oder andere Mal befischt doch bisher kein Glück gehabt, im Gegenteil. Dennoch war ich hochmotiviert, hatte aber auch ein bisschen die Einstellung: “Sei’s drum, wenn nichts geht, geht halt nichts”. Denn der Fluss liegt alles andere als nahe zu meiner Haustür und um die nächste Flusskurve zu erreichen, musste ich bereits eine unbequeme Zugfahrt von über eine Stunde in Kauf nehmen.
Kein Auto, alles mit dem Zug!
Als frischer Studienabgänger, ohne nennenswertes Gehalt hatte und habe ich keinen Wagen und war an die öffentlichen Verkehrsmittel oder andere Angler wie meinen Freund Len Etienne gebunden. Das beeinflusst nebst anderem auch meine Ausrüstung und meinen vagabundartigen Angelstil der letzten Jahre maßgeblich. Doch das günstige Wochenendticket des Belgischen Verbundes für öffentliche Verkehrsmittel SNCB versprach Linderung meiner wachsenden Sehnsucht. Der Plan war Samstagabend an die angedachte Stelle zu reisen, um einmalig ordentlich zu füttern. Dann zurück nach Brüssel, meine Wahlheimatstadt, zu fahren, um am Sonntagmorgen wiederzukehren und dann einen Tag am Fluss zu fischen. Eine Vorgehensweise, die von Anglern wie John Timmermans in seiner Drive & Survive Serie, oder aber auch von Kumpel Len erfolgreich am bewegten Wasser praktiziert wurde. Nicht unbedingt ein Instant-Ansitz, aber eben fast. Das war eigentlich neu für mich, denn ich bevorzuge an solchen Gewässern über längeren Zeitraum vor zufüttern. Hier war das allerdings fernab jeglicher Realität.
Das Futter liegt, es geht los!
Dann war es so weit: Sonntagmorgen. Der erste Zug auf Gleis 7 hatte über eine halbe Stunde Verspätung und ich dachte mir schon, das fängt ja wieder gut an. Endlich quetschte ich mich in das enge Abteil und hievte meine vollbepackte Abhakmatte oben auf die knarzende Ablagefläche, die eigentlich für Gepäckstücke ausgelegt ist. Neben mir nahm mein schwerer Rucksack Platz, der ohne Ticket fuhr. Am Wasser war es dann – wie erhofft – extrem entspannt. Kommerzielle Schifffahrt schien sonntags nicht stattzufinden. So konnte ich die Ruten lange effektiv auf einer Stelle fischen und musste lediglich aufpassen, dass mir die Sportboote nicht die Schnur einsammelten. Das war überraschend, denn die Maas hatte ich schon ein paar Tage sporadisch befischt und ansonsten immer unter Schleusung und regem Schiffsverkehr gelitten.
In der Tat so überraschend, dass ich meinem Cousin Max, der ebenfalls Karpfenangler ist, in einer Sprachnachricht auf WhatsApp davon berichtete. Während dem Aufnehmen der Nachricht bog dann aus dem Nichts ein großes Tankschiff, die Synthese-9, um die Ecke, was meiner Euphorie einen unmittelbaren Dämpfer verpasste. Ich hatte es eindeutig verschrien und das große Schiff, dass meine Montagen sicher verziehen würde, heraufbeschworen.
Die SYNTHESE kam näher und näher …
Die SYNTHESE kam näher und näher und der Bug war beinahe auf Höhe meiner linken Rute, als mein rechter Delkim anfing ein paar Töne zu stottern, bevor er dann durch einen Dauerton versuchte, meine Zweifel komplett aus dem Weg zu räumen. Dennoch zweifelte ich. Hatte das große Schiff irgendwie doch meine Schnur eingefangen? So oder so ich musste an die Rute.
Dann merkte ich jedoch schnell, dass etwas Anderes am Ende hing und ich mir wurde außerdem bewusst, dass meine Situation mit dem gehakten Unbekannten extrem brenzlig war: Der schafkantige Bug des Bootes – oder dessen Schiffsschraube – drohten die Kapitel meiner Misere an diesem Fluss fortzuschreiben, denn der starke Fisch lief noch immer und war bereits hinter dem Boot das schnell über ihn hinwegglitt.
In meiner Vorstellung war der rostige Rumpf wie eine Klinge…
In meiner Vorstellung war der rostige Rumpf wie eine Klinge die sowohl das Wasser als auch meine Schnur zu spalten wissen würde. Ich reagierte intuitiv und schnell und legte mich vor den Augen der Restaurantbesucher, die auf der Terrasse hinter mir saßen, und zum Teil schon beim schrillen Signal des Bissanzeigers aufgestanden waren, mit dem Bauch komplett auf den gepflasterten Boden vor der Spundwand.
Ich steckte meinen Arm, der die zum Halbkreis gebogene Pursuit Rute unter Wasser hielt, während die 6000er Spule der Spheros immer noch kreischend rotierte, soweit aus wie ich nur konnte, um irgendwie zu verhindern, dass die dicke Mono gekappt würde. Der Ölfrachter zog über die Szene hinweg und mit viel Glück hatte ich es durch meine Aktion geschafft, die Hauptschnur rechtzeitig weiter abzusenken und in Sicherheit zu bringen.
Mein Gegenüber wurde langsamer. Schließlich war es nur noch ein Ausdauerspiel und nach weiteren Tanzminuten zog ich einen kofferbreiten, wunderschön lehmig gefärbten Spiegelkarpfen in das schwarze, ausgefranste Dreieck, das ich Kescher schimpfte. Man, war dieser Fisch viel wert. Vielleicht war neben Glück, Können sowie den richtigen Ködern auch noch etwas anderes mit im Spiel, was mir diesen Karpfen nach den Alltagsstrapazen der letzten Monate gegönnt hatte.”